Mit dem Deutschlandticket übers Land

Ich fahre aus dem Heimatdorf zurück nach München. Natürlich nicht das erste Mal, aber das erste Mal mit dem Deutschlandticket.

Die Idee ist, von Haustür zu Haustür mit dem ÖPNV zu kommen. Das scheitert natürlich gleich daran, dass am Wochenende kein einziger Bus ins Heimatdorf oder aus dem Heimatdorf raus fährt. Es ist ein sehr kleines Dorf und das einzige, was sich hier in der Gegend im ÖPNV geändert hat, seit ich Anfang der 1990er weggezogen bin, sind die Muster der Sitzbezüge in den Bussen.

Also die ersten zwei Kilometer mit dem Auto. Drunten im Tal, wo der Fluß fließ, fährt immerhin jede Stunde ein Bus in die Kreisstadt.

Ich bin die Strecke seit meiner Schulzeit nicht mehr mit dem Bus gefahren. Es ist immer noch genau dieselbe Route und ich frage aus Reflex fast meinen Sitznachbarn, ob ich die Hausaufgaben abschreiben kann. Dann fällt mir aber ein, dass ich gar keinen Sitznachbarn habe, denn die Fahrgastauslastung im Bus ist doch überschaubar niedrig. Es ist Samstag und Samstagsschule haben sie irgendwann in den 1980ern abgeschafft und wer sollte außer Schülern denn sonst auch bitte mit dem Bus fahren? Eben!

Erster Halt: Alter Bahnhof Künzelsau.

Das Alt in Alter Bahnhof Künzelsau steht für: Früher fuhr hier auch mal ein Zug, aber dann haben wir das in den 1980ern stillgelegt und jetzt ist das halt eine Kreisstadt ohne Bahnanschluss. Immerhin setzt sich ein CDU-Abgeordneter gerade aktiv dafür ein, dass zumindest ein Teilstück wieder reaktiviert wird, aber: Psssst! Das darf Friedrich Merz niemals erfahren!

Es gibt also schon lange keinen Zugbahnhof mehr und in die Busse steigen auch nicht so viele Menschen, als das sich am Alten Bahnhof eine Bäckerei lohnen würde. Stattdessen ist die Automatenversorgung stabil hoch. Zweites Frühstück mit Red Bull und Snickers. Wer mag’s nicht?

Umsteigen in den Bus nach Schwäbisch Hall. Die Strecke bin ich noch nie mit dem ÖPNV gefahren. Die Fahrt geht nicht über die öde Umgehungsstraße, sondern direkt am Fluss entlang durch viele kleine Dörfer, in denen der Bus nur sporadisch halten muss. Die große Busfahrerkunst ist es hier, durch solche kleinen mittelalterlichen Stadttore zu fahren, ohne anzustoßen. Hut ab!

Wir kommen überpünktlich am Bahnhof Schwäbisch Hall Hessenthal an. 10/10 Sternen für den lokalen Busverkehr. Gleich fährt der Regionalexpress nach Nürnberg ein. Was soll jetzt noch schief gehen?

Kurz nachdem ich in den Zug eingestiegen bin erreicht mich eine Push-Nachricht der DB-App. Der Zug fährt heute nicht bis Nürnberg, sondern endet in Crailsheim. Crailsheim, das sind ungefähr 20 % der Strecke nach Nürnberg. Zu wenig für jemanden, der bis nach Nürnberg will. Viele hier im Zug wollen nach Nürnberg. Der nächste Regionalzug Crailsheim-Nürnberg kommt erst in zwei Stunden, es ist kalt, der Bahnhof Crailsheim nicht für seine Aufenthaltsqualität bekannt.

Die Zugbegleitern vom privaten Zugbetreiber verspricht uns über Lautsprecherdurchsage, dass sie uns am Bahnsteig über alternative Anschlüsse informieren wird. Eine Weiterfahrt mit dem IC, der kurze Zeit später hält, scheint im Bereich des Möglichen.

Am Bahnsteig bildet sich dann eine kleine Menschentraube. Allerdings nicht um die Zugbegleiterin vom privaten Zugbetreiber herum. Die ist abgetaucht. Ihre Aufgabe übernimmt der Bahnhofsvorsteher Crailsheim. Der hat ein DB-Logo auf der Jacke.

Er erklärt uns, dass dieser Zug eigentlich niemals weiter als bis Crailsheim fährt. Da hat wohl jemand die Zuginfo vom privaten Zugbetreiber falsch in das System der DB eingespeist.

Im Menschenpulk kristallisiert sich jetzt die Rädelsführerin heraus. Sie hat die lauteste Stimme, sie ist meinungsstark und sie hat Fragen: Wie so was passieren kann zum Beispiel.

Der Bahnhofsvorsteher erzählt was von wegen, dass das eine EU-Institution macht. Nach weiteren ausführlich-nerdigen Detailerläuterungen wie private Zuganbieter ihre Fahrplaninfos in das System der DB einspeisen, klingt es für mich so, als könne da eigentlich niemand was dafür. Das ist alles sehr komplex und wahrscheinlich haben hier die Maschinen schon die Macht übernommen.

Die Rädelsführerin hört EU und damit ist das Thema für den nächsten Kurzvortrag gesetzt. Der Bahnhofsvorsteher versucht zu deeskalieren und erklärt uns, dass die von der privaten Zugbegleiterin angedeutete Weiterfahrt mit dem IC leider nicht möglich ist. Unterschiedliche Zugunternehmen. Nahverkehr/Fernverkehr. Schwierig. Nicht die beste aller Deeskalationsstrategien. Die Rädelsführerin hakt lautstark nach und versucht die Umstehenden zu vereinen. Wir könnten ja einfach alle gesammelt in den IC einsteigen, dann kann uns keiner was! Auch nicht die da oben bei der EU!

Ich schweife gedanklich ab und mir fällt auf, dass die privaten Bahnanbieter hier in der Gegend „bwegt“ und „GoAhead“ heißen. Viele Menschen verharren ja antriebslos in der Gegenwart, wissen noch nicht mal, was sie morgen machen wollen. Hier aber setzen sich Unternehmen schon im Namen verankerte Ziele für die Zukunft. Eine sehr ferne Zukunft.

Der Bahnhofsvorsteher jedenfalls verspricht, noch mal bei seiner Leitstelle anzurufen, verschwindet und kommt nach zehn Minuten zurück. Bis Nürnberg den IC nehmen geht leider wirklich gar nicht. Sagt die Leitstelle. Aber wir könnten jetzt alle in den IC einsteigen und am nächsten Halt Ansbach aussteigen.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob er den Deal mit der Leitstelle abgesprochen hat oder ob er einfach nur seine Ruhe haben will. Für mich reicht das aber als Information, weil ich mittlerweile rausgefunden habe, dass mir ab Ansbach eine alternative Route möglich ist.

Die Frau hört nicht auf, sehr laut zu reden. Es stehen immer noch Menschen um sie rum, ich glaube aber viele davon haben Kopfhörer in den Ohren.

Verziehe mich zum Kiosk und hole mir ein Schnitzelweckle. Zum Glück fällt mir nämlich rechtzeitig ein, dass die Semmel-Grenze noch nicht überschritten ist. Auch noch nicht überschritten ist die „Kartenzahlung-erst-ab-10-Euro“-Grenze.

Statt der Frau höre ich lieber den Zugführern zu, die sich hier im kleinen Raucherquadrat zur Pause zusammengefunden haben. Ich erfahre, dass die Einfahrt in den Baustellen-Hauptbahnhof Stuttgart für Regionalzüge eine Katastrophe ist. Fernverkehr immer bevorzugt. Da machst du nichts als kleiner Regionalzugführer. Außerdem tauschen sie sich aus, wo auf der Alb man es mit 160 Sachen auch als Regionalzug geschwindigkeitstechnisch mal richtig krachen lassen kann.

Drüben am anderen Bahnsteig redet die Frau immer noch.

Der IC hält. Ich steige in den allerersten Wagen ein. Weit entfernt von der Anführerin des kommenden Passagieraufstands. Bin der erste, der kontrolliert wird. Der Schaffner hat andere Infos von seiner Leitstelle, als der Bahnhofsvorsteher Crailsheim. Deutschlandticket im IC? No way, man! Auch nicht bis Ansbach! Vielleicht wollte der Bahnhofsvorsteher doch einfach nur seine Ruhe.

Ich erkläre dem Schaffner also noch mal alles ganz genau und sage ihm, dass er im weiteren Verlauf seiner Kontrollen hier im Zug bestimmt noch den ein oder anderen Passagier mit ähnlichem Schicksal treffen wird. Er zieht erst mal weiter, ich höre nie wieder was von ihm. Denke, die Frau vom Bahnsteig hat ihn argumentativ in den Schwitzkasten genommen und die Revolution hat begonnen.

In der DB-App sehe ich schon, dass mein Anschlusszug in Ansbach eine halbe Stunde Verspätung hat. Eigentlich ganz ok, es wird dann nicht so stressig mit dem Umsteigen.

In Ansbach am Bahnsteig passiert dann etwas Seltsames. Ich steige aus dem IC aus. Am Gleis gegenüber steht schon mein Anschlusszug. In der DB-App steht immer noch, dass er verspätet ist, auf der Gleisanzeige auch. Drinnen sitzen schon Menschen. Steht der aus irgendwelchen Gründen also noch eine halbe Stunde hier rum. Denk ich mir. Kann ich noch ein bisschen an der frischen Luft bleiben und ein Foto machen. Während ich das Foto mache, fährt der Zug los. In der DB-App und auf der Gleisanzeige steht plötzlich keine Verspätung mehr.

Eine Stunde Aufenthalt in Ansbach. Was soll man da machen? Einen Bäcker suchen. Keiner hat offen. Alles wie ausgestorben.

Dann geht es auch schon weiter bis nach Treuchtlingen. Alles nach Plan. Ich kann es mir ein bisschen gemütlich machen.

Von Treuchtlingen bis München keine besonderen Vorkommnisse mehr. Außer natürlich das idyllische Altmühltal und der obligatorischen Frage in meine verschiedenen Chatgruppen, ob jemand in Pappenheim jemanden kennt?

Mit zwei Stunden Verspätung in München. Land und Leute kennen gelernt.

20 Gedanken zu „Mit dem Deutschlandticket übers Land“

  1. @heibie Schöner Reisebericht! Eine kleine Anmerkung: Lokführer*in = sitzt ganz vorne, fährt den Zug. Zugführer*in = läuft durch den Zug, kümmert sich um die Fahrgäste. Du hattest dich in Crailsheim also vermutlich zu einer Gruppe Lokführer gesellt.

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