Die neue Stadtteilbibliothek in der Messestadt Riem eröffnet am 25. Mai zum ersten Mal ihre Türen.
Ich schaue am Eröffnungstag am frühen Abend auch mal raus, ob meine Lieblingsbibliothekarin noch lebt. Sie hat die schicken Schuhe vom frühen und offiziellen Eröffnungsmorgen gegen bequemere Sneaker eingetauscht und sieht immer noch sehr beschäftigt, aber auch recht zufrieden aus.
Ich will sie nicht weiter stören und setze mich mit ein paar Freundinnen und einem Bier vor den Eingang der Bibliothek. Es ist der erste laue Abend seit gefühlten 100 verregneten Wochen und wir beobachten ein bisschen.
An normalen Tagen würde die Bibliothek jetzt bald schließen, aber es ist Eröffnungstag, da dürfen alle ein bisschen länger wach bleiben, es gibt Gratiseis, Miss Pitty ist da und es ist insgesamt ein einziges Gewusel.
Ein kleiner Junge, maximal 1. Klasse, jongliert einen sehr hohen Stapel mit Comics ins Freie. Den will er anscheinend alleine nach Hause tragen. Ambitioniert. Dann schnappt er sich noch einen Roller. Er will mit dem Stapel nach Hause rollern. Unmöglich! Zum Glück hat jemand von uns noch eine Tasche dabei, die wir ihm geben. Er packt alles rein, tritt schon los, da fällt ihm noch was ein. Er rennt zurück. Sein Schulranzen steht noch in der Bibliothek. Er war seit Schulschluss da.
Von gegenüber ruft uns ein Mädchen – schätzungsweise 4. Klasse – zu, ob wir mal kurz auf ihre Sachen aufpassen können. Sie zeigt uns aufgeregt einen Stapel Jugendbücher und ihre Tonies, die sie erbeutet hat. Aber sie muss noch mal rein, eine Freundin suchen und – ganz wichtig – sie hat ihren Bibliotheksausweis vergessen, mit dem sie kurz darauf stolz wedelnd wieder raus kommt.
Drinnen spielt mittlerweile ein Trio dezent Musik. Drumherum hören manche aufmerksam zu, manche blättern in Büchern, andere tanzen ein bisschen. Kinder rennen zwischen Jazz-Trio und Regalen rum, sitzen mit Kopfhörern am PC, ein Rollifahrer scannt das Regal mit den Ratgebern, zwei Jungs spielen im Nebenraum seit Stunden Monopoly und im Lernzimmer wird: gelernt.
Ich sehe bunte Haare, lockige Haare, graue Haare, keine Haare, lichte Haare und Haare unter Kopftüchern. Wir setzen uns in den Lesegarten. Am Nebentisch hat ein Vater seine kleine Tochter auf dem Schoß und liest ihr aus einem Buch vor. Sie schläft fast ein. Aber nur fast. Es dämmert langsam.
Die Vielfalt, die wir hier in zwei Stunden komprimiert beobachten – das sind öffentliche Bibliotheken. An jedem Öffnungstag, in allen 25 Münchner Stadtteilbibliotheken, in allen öffentlichen Bibliotheken in ganz Deutschland.
Öffentliche Bibliotheken sind für alle da. Hier darf jede*r erst mal reinkommen. Egal wie alt, egal woher. Niemand wird beurteilt, niemand muss sich seine Sitzberechtigung mit einer überteuerten vanilla-flavoured Chai-Latte oder einer schlecht eingeschenkten Maß Bier erkaufen. Hier treffen die Lauten auf die Leisen, die Jungen auf die Alten, die Extrovertierten auf die Introvertierten. Für manche ist die Bibliothek das zweite Wohnzimmer, für andere das einzige.
Das geht natürlich nicht immer so konfliktfrei und harmonisch wie an diesem Eröffnungstag. Aber da ist ein Raum, wo Menschen noch in echt aufeinandertreffen und diese gesellschaftlichen Konflikte aushalten und aushandeln. Ein Ort, an dem – bei aller Unterschiedlichkeit – Verständnis und Respekt für Andere entstehen kann.
Für öffentliche Bibliotheken ist Diversität kein theoretischer, kein akademischer Begriff. Diversität kommt bei ihnen jeden Morgen um 10 Uhr zur Tür rein und geht abends um 19 Uhr wieder zur Tür raus.
Diese Vielfalt bilden Bibliotheken dann auch in ihren Veranstaltungen ab. Zugewanderte können Deutsch lernen, Spielbegeisterte Pen&Paper, Teenager Kickbox-Moves.
Und Drags lesen Kindern aus Bilderbüchern vor.
Bibliotheksmitarbeiterinnen haben seit Jahrzehnten Veranstaltungserfahrung. Sie lernen das in ihrer Ausbildung, in ihrem Studium. Sie bilden sich fort, tauschen sich aus. Sie kennen sich nicht mit jedem Thema selbst aus, sind aber gut vernetzt und haben die passenden Kooperationspartner. Bibliotheksmitarbeiterinnen sind Profis und wenn eine Bibliothek auf eine Veranstaltungsankündigung schreibt, dass sie ab 4 Jahren geeignet ist, dann kann man davon ausgehen, dass das so ist, weil sich davor jemand mit dem Thema beschäftigt hat, weil es ein Veranstaltungskonzept ist, dass sich in anderen Städten schon bewährt hat.
Man kann eine Draglesung für Kinder also einfach als eine von über 600 professionell geplanten Veranstaltungen einer deutschen Großstadtbibliothek sehen. Eine Veranstaltung, an der das beste und einzige was passieren kann, ist, dass Kinder lernen: Es ist ok anders zu sein.
Oder man ist Generalsekretär der CSU oder stellvertretender Ministerpräsident von Bayern und heizt die Stimmung mit schnell ergoogelten Vorurteilen und Halbwahrheiten weiter an. Eine Stimmung, die dafür sorgt, dass für die Lesung mittlerweile zwei Wut-Demos angemeldet sind.
Vielfalt macht Kindern keine Angst, wütende Demonstrationen vor solchen Lesungen hingegen schon.
Bibliotheken sind Vielfalt.
♥️
🤩
❤️
So wahr und so schön!
So wahr und so schön!
Tolle Worte!
Eine wunderbare Außensicht auf das, was Bibliotheken und das Personal leisten, danke!
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