Es regnet. Aber in Jena ist sonnig.
In München kann ich normalerweise schon beim Aufwachen hören, ob es regnet oder nicht. Hier ist das sogar bei geöffnetem Hotelfenster schwierig, weil der Regen lautlos hinterhältig vor sich hinnieselt. Wie aus so einer Bestäuberflasche. Zum Glück gibt es WeatherPro, die beste Wetter-App aller Zeiten und die sagt: heute regnet es.
Also erst mal Zeit für ausgiebig langes Frühstück. Der Frühstücksraum ist mit der Anzahl der übernachtenden Hotelgäste komplett überfordert. Es schadet also nicht, dass ich Frühaufsteher bin und mich schon mal an die Hotelbar setzen kann, auf der Suche nach einem frei werdenden Vierertisch. Der Blick aus dem Fenster zeigt einen komplett unterschiedlichen Umgang mit dem Regenwetter. Die einen (Einheimische) lassen sich in kurzer Hose oder Sommerkleid einfach ein bisschen mit Wasser bestäuben und legen eine schon fast provozierende Regengleichgültigkeit an den Tag, die anderen (Touristen) sind komplett in Regenfunktionskleidung eingehüllt.
Beim Warten denke ich weiter darüber nach, dass ich gestern festgestellt habe, dass die App TooGoodToGo, die ich in München regelmäßig nutze, um kurz vor Ladenschluss günstiger Backwaren zu kaufen (und sie vorm Wegwerfen zu retten) auch in Dänemark aktiv ist und das unser Hotel mitmacht. Es wäre also jetzt – nur rein theoretisch – möglich, hier an der Bar zu sitzen und den Frühstücksschluss um 10.30 abzuwarten, 15 Minuten später meine TooGoodToGo-App zu zücken und für einen Bruchteil des ursprünglichen Frühstückspreises einfach die Reste vom Buffet abzuholen. Da ich mich aber gestern schon mit den lokalen Fantasiepreisen abgefunden habe, bleibt es ein loser Spargedanke, der aber vielleicht für andere Dänemark-Reisende interessant ist. Ganz bekommt man den Sparschwaben aber wohl auch im Urlaub nicht aus dem Kopf.
Die Kinder denken über ganz andere Geschäftsmodelle nach. Es gibt hier nämlich Prime im Lidl. Nein, nicht der Streaming-Dienst von Amazon, sondern der, mir bisher komplett unbekannte, neue Hydration-Partner vom FC Bayern München und diesen Sommer das angesagteste Getränk auf Deutschlands Schulhöfen. Ich lasse mir erklären, dass dort horrende Preise für den in Deutschland (noch) nicht erhältlichen Energydrink bezahlt werden und jetzt muss man halt mal schauen, für wie viel Flaschen am Ende des Urlaubs noch Platz im Koffer ist.
Ich bin ja wirklich offen für Softdrinks und Getränkexperimente aller Art und werde nicht müde jedem ungefragt vom Getränkemischautomaten bei FiveGuys vorzuschwärmen, der wirklich jedes erdenkliche Flavour (CherryVanillaLemonCoke, Leute!), das jemals im Coco Cola Headquarter Atlanta (USA) erfunden wurde, zusammenmischt, aber Prime, das kann ich nach einem kurzen Selbsttest sagen: Das ist es nicht.
Dann Frühstück. Beim anschließenden Durchqueren der Hotellobby fällt mir das Toilettenschild auf. Ich bin froh, dass in unserem Hotel Diversität richtig groß geschrieben wird und kein Wikinger in Rüstung draußen bleiben muss.
Es hat sich eingeregnet und wir gehen ins Danish Architecture Center.
Am Eingang der Ausstellung erst mal ein Selfie mit einem Ziegelstein. Ich zitiere den Audioguide: The brick was a game changer! (Mein popkulturell verseuchtes Gehirn fragt sich gleich, ob nicht mal jemand einen dem Ren&Stimpy-Log-Commercial ähnlichen Spot für den Brick machen will)
Danach kommt eine kleine Abkürzung in die Zukunft. Und mir kommt schon nach den ersten Stadteindrücken von gestern der Gedanke, dass unser ganzer Kopenhagen-Trip unter dem Motto stehen könnte.
Einer der Hauptgründe, warum Kopenhagen und andere dänische Städte so sind, wie sie sind ist im DAC omnipräsent: Jan Gehl.
Der Architekt und Stadtplaner hat seit den 1960ern zuerst damit angefangen Städte neu zu denken und dann neu zu planen. Wobei: so neu waren seine Ideen gar nicht, man hatte es zwischerndurch nur vergessen.
Zwischendurch, als man die autogerechte Stadt entlang der Charta von Athen gebaut hat. Architektur, die Jan Gehl Vogelkot-Architektur nennt, weil sie aus der Luft superschön geordnet aussieht, wenn man aber eintaucht und die menschliche Perspektive einnimmt, nicht lebenswert ist. Er muss sich da seit den 1960ern mit ziemlich viel Architekten und Stadtplanern angelegt haben, wenn er z.B. feststellt, dass vielen Architekten nur die Form wichtig ist, aber nicht, wie die Form mit dem Menschen interagiert.
Sein Ansatz war und ist: Städte für Menschen. Vom Menschen aus gedacht und geplant. Städte, in denen man im Kleinen alles beieinander hat, was man zum Leben braucht. Arbeit, Freizeit, Geschäfte, Schule. Die 15-Minuten-Stadt, in der niemand Auto fahren muss. Zahlreiche Bücher hat er dazu veröffentlicht, in diesem TED-Talk fasst er es in 20 Minuten mit wahnsinnig sympathischem danishenglish-Akzent sehr unterhaltsam und verständlich zusammen.
Man findet in der Ausstellung noch viele Beispiele für dänische Städteplanung einschließlich eines eindrucksvollen Live-Ausblicks von der Dachterasse aus auf die Rad- und Fußgängerbrücke Lille Langebro.
Kopenhagen hat vor über 30 Jahren damit angefangen, die Stadt umzubauen und neue Prioritäten für Menschen zu setzen. Wenn wir unsere Städte in Deutschland einigermaßen gerecht und an den Klimawandel angepasst gestalten wollen, dann werden wir das auch machen müssen. Experten sind sich da eigentlich größtenteils einig. Ob wir als Gesellschaft so weit sind, muss sich zeigen. Während ich das hier schreibe, wird daheim in München um 300 Meter verkehrsberuhigte Straße gestritten. Ein Shortcut to the future wäre dringend nötig.
Wir verlassen das Architekturzentrum. Jüngere Familienmitglieder über die Fast-Track-Rutsche.
Das Tagesticket ÖPNV reicht noch für eine Schifffahrt. Ähnlich wie in Hamburg gibt es in Kopenhagen zwei ÖPNV-Schiffsrouten durch den Hafen. Wir steigen einfach mal ein und schauen, wo uns der Kapitän rauswirft. Er wirft uns auf einer unansehnlichen Brachfläche raus. Denke ich zuerst. Dann merken wir, dass man ein bisschen weiter gehen muss und man kommt zu einem großen Bereich, der mich ein bisschen an eine Münchner-Mischung aus Backstage, Bahnwärter Thiel und Werksviertel erinnert. Alter Hafencharme, Umnutzung, Container und eine sehr große Fressmeile mit wirklich jedweder Koch-Stilrichtung. Bei schönerem Wetter ist Refshaleøen bestimmt nett und belebt.
Rückfahrt im Bus. Neben mir schaut ein anderer deutscher Tourist auf sein Smartphone und ruft dann erfreut seiner Familie durch den halben Bus zu: 48 KW heute! In Jena ist sonnig!
Das kenne ich schon von meinem Freund Lars. Er hat seit kurzem eine Solaranlage auf dem Garagendach, die er, der Name ist sehr zwingend, Solars nennt. Und der schaut bei unseren Treffen auch gerne auf seine App, die ihm quasi minütlich mitteilt, wieviel Strom sein Garagendach gerade produziert. Ich glaube, Fachleute nennen das Gameification und es freut mich, dass die Energiewende auch im Osten voran kommt.
Abendessen in der Burger Garage.
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Die beste Wetter-App aller Zeiten sagt eine Mischung aus den ersten beiden Tagen voraus. Wir gehen also raus, aber zur Sicherheit nicht mit dem Rad.…
Sehr gerne gelesen.
Und wieder bitter bereut, Kopenhagen bisher immer nur als Umsteige-Station besucht zu haben.